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Von der Intelligenz in der Karosserie zum intelligenten Rückhaltesystem – Interview mit Michael

Theresa Ley,

Warum die Intelligenz der aktuellen Crashsensoren vor allem in der Karosserie liegt, wie sich VAIVA an der Entwicklung genderkonformer Technologien beteiligt und warum Machine Learning der Weg zu intelligenten Rückhaltesystemen ist, aber nicht die alleinige Antwort auf alle Fragestellungen, erklärt unser Teamleiter Michael im folgenden Interview.

Wir wollen mit einem kurzen Abriss über den Status Quo der aktuellen Airbag-Steuergeräte starten…

Genau – das Steuergerät erkennt ob eine Kollision stattfindet – sprich ein Ernstfall vorliegt – und muss innerhalb sehr kürzer Zeit – ein paar Millisekunde – entscheiden, ob ausgelöst werden muss. Die Anforderungen der notwendigen Zündzeiten sind größtenteils aus der dynamischen Situation der geforderten Gesetzes- und Verbraucherschutz Crash-Tests abgeleitet.

Das Airbag-Steuergerät analysiert jetzt, welcher Druckanstieg zu verzeichnen ist. Analysiert die übrigen Beschleunigungssensoren im Fahrzeug bezüglich deren Verläufe mit der Kernfrage: Vorgebender Schwellenwert überschritten? – Ja oder Nein?

Wenn bei einem zweiten Signal der zugehörige Schwellenwert auch überschritten würde, liegt eine sogenannte Plausibilisierung vor, und das Airbag-Steuergerät löst den entsprechenden Airbag aus. Der Zeitpunkt, wann die Schwelle überschritten ist, ist eigentlich ein Indikator über das Karosseriedesign und somit auch über die Karosseriesteifigkeit und das Deformationsverhalten. Die Geschwindigkeiten, die Massen der kollidierenden Fahrzeuge – sprich die kinetische Energie der Fahrzeuge – und die eigene Karosseriesteifigkeit bestimmen letztendlich das Auslöseverhalten der Rückhaltekomponenten: daher steckt aktuell die eigentliche „Intelligenz“ – wann muss was getan werden, um den Insassen bestmöglich zu schützen – nicht im Algorithmus, sondern in der Karosseriesteifigkeit. Damit sind wir wieder in der Physik und Mechanik.

Wenn die Intelligenz momentan eher in der Karosserie liegt, kann das Auto wohl auch noch nicht in Echtzeit erkennen, wie schwer ein Unfall wird, um beispielsweise die Rückhaltewirkung eines Airbags entsprechend anpassen zu können?

Korrekt: Es wird in erster Linie gesteuert und nicht geregelt. Zwar gibt es Rückhaltekomponenten, die einen regelnden Charakter haben. Dies liegt aber dann vorwiegend an physikalischen und mechanischen Eigenschaften der Komponente selbst, und nicht an der Logik – der Intelligenz – die das Rückhaltesystem ansteuert.

Zurück zum Seitenschutz: Nehmen wir hier ganz konkret den Seitenairbag als eine Komponente: Momentan hat dieser eine Kammer (ein Volumen), die mit einem pyrotechnischen Generator gefüllt, sprich aktiviert wird sowie meistens eine definierte Abströmfläche (Vent genannt), über die der Gasinhalt gezielt entweichen kann. That’s all!

Man träumt schon seit Jahren von einem adaptiven Seitenairbag, bei dem man das Volumen des Airbags gezielt entweichen lassen kann. Salopp gesagt: Vent auf – Vent zu – Vent auf…

Gibt es heute Adaptivität bei den Rückhaltesystemen?

Im Frontbereich gibt es heute schon eine gewisse Adaptivität im Falle von einem Crash: Es werden beispielsweise bestimmte Größen der Insassen berücksichtigt. Frauen – oft kleiner und leichter als Männer – werden hier als „Fünf Prozent“ -oder „50 Prozent“ Frau berücksichtigt: Hierbei wird lediglich über die Masse der Insassen unterschieden.

In der aktuellen Gender- und Diversitydiskussion steht die grundsätzliche Annahme, dass es sich um männliche Fahrzeuginsassen handelt und die Benutzung von ausschließlich männlichen Dummys in der Kritik.

Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf!

Beispielsweise könnte man geschlechterspezifische Unterschiede sehr gut in den „Menschmodellen“ abbilden. Man muss diese Unterschiede von unterschiedlichen Körpern (Mann – Frau, dick – dünn, …) auch in der dahinterliegenden Intelligenz für das Ansteuern oder Auslösen von Rückhaltesystemen berücksichtigen. Um auch im technischen Bereich genderkonform zu werden, benötigen wir im Fahrzeug noch mehr Informationen – beispielsweise von der Innenraumbeobachtung und der Insassenklassifizierung: Sind die Fahrzeugpassagiere groß oder klein? Welches Geschlecht haben sie? Ist die Person schwanger? Je mehr Faktoren bei der Auslöseentscheidung herangezogen werden können oder müssen, desto komplexer die dahinterstehende Algorithmus.

Du hast gerade schon das Human Body Model genannt, das in das Thema spielt. Welche weiteren Themen sind für die Weiterentwicklung der Crashsensoren wichtig?

Ja, das Human Body Model ist sehr wichtig. Hochrelevant sind auch Bilder vom Fahrzeuginnenraum, um Informationen darüber zu erhalten, in welcher Sitzpositionen sich die Insassen befinden. Auch die Erfassung der Insassenkinematik im normalen Fahrbetrieb ist wichtig. Aber nicht nur die Erfassung, auch die Prognose der Insassenkinematik wird benötigt. Prädiktoren werden generell ein großes Feld werden, nicht nur in der Fahrzeugsicherheit.

Die große Fragestellung ist aber: Nach welchen Kriterien wird ausgelöst? Und mit Kriterien meine ich hier nicht nur die technischen. Medizinische, aber auch ethische Kriterien müssen wir künftig stärker erfassen, erörtern und entwickeln.

Die technischen Kriterien liegen heute schon größtenteils vor und finden sich in der Funktions- und Systementwicklung von Rückhaltesystemen wieder.

Ein Rückhaltesystementwickler optimiert das System unter Vorgabe einer bestimmten Position des Insassen. Die Rahmenbedingungen bei der Entwicklung stammen allerdings wieder aus dem Laborfall, bzw. aus den zugrundeliegenden Erkenntnissen der Unfallforschung. Wir wollen aber im Feld, also ‚da draußen‘ – in der Realität, noch besser werden. Wichtig für uns ist also der Blick auf die Feldsituation und was in genau dieser konkreten Situation am meisten Sinn macht, wenn es zum Crash kommt.

Um jetzt im Feld zu wissen, welche Vorgehensweise in jeder möglichen Situation das Beste wäre, benötigen wir viele Informationen: Wo sitzt der Insasse? Wie lautet die Prognose hinsichtlich der Crashschwere? Stichwort: Crashschwereschätzer. Aber vor allem: Mit welcher Rückhaltestrategie arbeiten wir dann im Crash? Blicken wir mal in die Zukunft, wenn sich das pilotierte Autofahren etabliert hat: Sollte der Fahrzeuginsasse währen der Fahrt liegen, sollte man den Passagier im Falle eines Crashs aufrichten? Macht es Sinn, dass der Insasse im Fahrzeuginnenraum vielleicht verschoben wird? Macht es Sinn ein zusätzliches Rückhaltesystem einzusetzen?

Um all diese Szenarien zu berechnen, um zu wissen, welche Crashszenarien eintreten könnten und welche Rückhaltesystemstrategien am besten im jeweiligen Crashszenario eingesetzt werden sollte, ist Machine Learning das Tool, mit dem alles erst möglich wird. Jedoch ist wichtig zu verstehen, dass Machine Learning nicht die alleinige Antwort auf die vielen Fragestellungen ist. Was wir nämlich bei Machine Learning immer auch benötigen ist: Eine Kontroll- und Plausibilisierungseinheit.

Diese Kombination aus Machine Learning und einem regelbasierten Algorithmus – und diese dann auf einem Steuergerät im Fahrzeug ausführen zu können – wird für VAIVA in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein sehr wichtiges Tätigkeitsfeld werden.

Die von Dir beschriebene Kombination kann man auch als „intelligente Rückhaltesysteme“ bezeichnen. Welche Herausforderungen siehst Du bei der Entwicklung derselbigen?

Die große Herausforderung ist für mich, dass das Wissen, das bereits in der Funktionsentwicklung von Rückhaltesystemen vorhanden ist, den Weg in das Fahrzeug findet. Stell Dir vor: Funktions- und SystementwicklerInnen sitzen mit im Auto – oder noch genauer: im Steuergerät – und entscheiden basierend auf all ihrer Erfahrung und allen Informationen, die sie gerade haben, welches Rückhaltesystem muss genau jetzt in dieser Fahrsituation wie eingesetzt werden, um den besten Schutz für die Insassen und andere Verkehrsteilnehmer zu bieten.

Alleine für die Entscheidung, ob ein Rückhaltesystem gezündet wird oder nicht, benötigen wir eine Prognose. Was passiert, wenn ich zünde, was passiert, wenn ich nicht zünde? Das ist auch eine ethische Abwägung. Ist der Worst-Case ein Rippenbruch oder aber eine schwere Kopfverletzung? Bei älteren Menschen kann eine Rippenverletzung lebensbedrohlicher sein als eine Gehirnerschütterung.

Bedeutet das, wir sollten in Zukunft noch enger mit Medizinern zusammenarbeiten?

Ja, definitiv: Denn wir müssen Risikobetrachtungen bezüglich möglicher Verletzungen durchführen. Bei der Auslöseentscheidung muss das potenzielle Gesundheitsrisiko des Einzelnen berücksichtigt werden. In einem Rückhaltesystem der fernen Zukunft wird der Gesundheitszustand des Individuums bereits bei der Auslöseentscheidung miteinbezogen. Das wäre dann für mich das intelligente Rückhaltesystem.